Donnerstag, 8. Oktober 2015

Von Geissen Peters Bruder, einem Bären und dem Glück, dazu zu gehören

Die Kleine hat Augen wie ein Rösslispiel, kugelrund und quitschvergnügt. Ihr Ausdruck verrät, dass bei ihr der Gwunder auf diese Welt erst gerade erwacht ist. Sie ist acht Monate alt, wiegt aber mehr, als das zweijährige Kerlchen, das neben ihr steht. Sie ist auch ein vielfaches lauter. Sie hat einen dunklen Teint, ihr Haar ist gelockt und wie ihre Stimme sind auch ihre Arme und ihre Beine kräftig. Das Kerlchen neben ihr – fairer wäre wohl Kerl, immerhin ist er ein angehender Mann – ist strohblond und zartgliedrig. Einer, der seinen Charme nur gezielt einsetzt und sich grundsätzlich lieber bedeckt hält. Dann ist da noch einmal ein Mädchen, dunkelblondes Haar, wunderschöne Augen, schätzungsweise in der ersten Klasse. Daneben ein Giel, ebenfalls strohblond, er könnte der Bruder vom Geissen Peter sein und aus unerfindlichen Gründen wecken seine Augen Heimatgefühle in meiner Brust. Er ist froh, ist die Kleine, die heute ihren Einstand in dieser Familie aus Tageskindern und Bauersleuten gibt, kein Flüchtling, sondern halt einfach etwas dunkler als er selber. Seine Schwester, die sagt, ihre Mami werde genau so dunkel, wenn sie etwas länger an der Sonne bleibe, entdecke ich als Letzte. Sie ist vom Fleck weg begeistert vom neuen Mitglied ihrer Tageselternfamilie.
















Zwischen kochen, Windeln wechseln, putzen, trösten und spielen kommt noch einmal der Flüchtling auf den Tisch. Was an einem solchen so ungemütlich sei, will ich von Geissen Peter’s Bruder wissen. Bei dem wisse man nie, sagt er. Man müsse damit rechnen, verhauen zu werden oder bestohlen, deshalb möchte er mit Flüchtlingen nichts zu tun haben. Woher er das wisse, frage ich. Darauf runzelt er die Stirn und sagt nichts. Aufheitern tut ihn dann das Spiel mit der Kleinen. Er klettert zu ihr ins Laufgitter und amüsiert sich prächtig. Sie freut sich über diesen so unerwarteten Gast, der genauso gut ihr Bruder sein könnte. Wie ich die Kleine wickle, gibt mir die Schwester vom Geissen Peter Anleitung, wie das am besten geht. Sosoaha! Damit ich nicht beleidigt bin, erklärt sie mir, man wisse halt nie, wer was wisse und vor allem wisse man nie, wer wirklich wickeln könne. Da muss ich ihr Recht geben, man weiss tatsächlich ziemlich wenig.

















Sind die Kinder zufrieden und versorgt, schaue ich nach der Bäuerin. Sie liegt flach darnieder, ihr ist’s in den Rücken geschossen. Sie muss jetzt liegen oder stehen. Sie liegt lieber. Und isst Tabletten. Und wenn sie an den Küchentisch sitzt, fängt eine kleine Fragerunde an. Wie’s denn lief in der Schule oder beim Kochen oder beim Quietschen, ob alle alles haben? Sie gibt mir meine Aufträge. WC und Bad putzen, Wäsche aufhängen, zusammenlegen, Wäsche waschen, Kühlschrank putzen, Boden aufnehmen. U gäu, luegsch de Ching! Die sind aber schon gut aufgehoben. Die Tochter der Bäuerin ist nämlich auch da, eine Kindertante par excellence. Aber wenn es um die Kinder geht, arbeitet die Bäuerin nach dem Motto „Dopplet genäit het besser“. Die Bauerstochter hat noch keine eigenen Kinder und wenn ich sie so beobachte, dann scheint mir, dass es höchste Zeit ist dafür – sie sieht halt einfach so aus und verhält sich so.

















Der Bauer, von seiner Bäuerin „Dr Bär“ genannt, ist ein Gemütlicher, der aber, potzdonnerli, Ordnung haben will am Tisch und überhaupt. Es wird von allem gegessen und es ist ruhig und wenn einer erzählt, hören die anderen zu. I wott kes Gschtürm! Und wenn er, dr Bär, sich zu Wort meldet, dann wissen alle ziemlich schnell und gut, wo der Bartli seinen Moscht holt. Ausser vielleicht die Hunde, die sind wohl etwas schwerhörig. Die sind nämlich auch immer und überall da, wo Beine sind und überhäufen alle mit Sympathiebekundungen, mit dem nicht unschwer zu erkennenden Ziel, vielleicht etwas abzubekommen von dem, was man sich in den Mund schiebt. 

In diesem Gewusel von Mensch und Tier, vom Lachen und Quietschen, vom Erzählen und Zuhören, vom Essen und Trinken, von Blonden, Braunen und Grauhaarigen, von Fast-Flüchtlingen und Ur-Schweizern, von Bären und Tatzen, in diesem Gewusel ist es mir wohl. Ich schwimme mit, ich lache mit, ich esse mit – ich bin Teil des Ganzen. So selbstverständlich, dass ich mich selber darüber wundere.

Mittwoch, 29. Juli 2015

Wie Frau Bühlmann mit Yoga und Cognac gut und gerne alt wird

Ein frischer, sonniger Morgen am See. Die Yoga-Stunde ist vorbei und damit Zeit, für mein kleines Fotoshooting mit Erika Bühlmann. Sie ist die älteste Kursteilnehmerin der Volkshochschule Spiez und besucht wöchentlich die Yoga-Stunde 50+ bei Trix Hausherr.























Nach dem Fotoshooting spazieren Erika Bühlmann und ich vom Walenrain bis zum Kronenkreisel. Hier wohnt sie. Und wenn sie diesen Spaziergang geschafft hat, dann hat sie, zusammen mit der Yoga-Stunde, ihr tägliches Soll an Bewegung erfüllt.

Sie ist sehr zufrieden, dass es ihr noch so gut geht. Sie hat so gut wie keine Beschwerden. Und als sie vor etwa einem halben Jahr so ein komisches Sturmsein erlebte, da legte sie sich auf den Boden und nahm einen kräftigen Schluck Cognac. Ja, Cognac müsse schon immer parat stehen. Ihr habe jemand zugesteckt, der erweitere die Gefässe und das sei eine gute Sache. Tja, lacht sie, Sie wissen ja, Glaube macht selig. 

















92 Jahre sind viele Jahre. Darum hat Erika Bühlmann auch viel zu erzählen. Lustige und beeindruckende Geschichten. Zum Beispiel von den 35 Jahren, in denen sie als Geschäftsfrau tätig war, zusammen mit ihrem Mann. Sie hatten ein Lebensmittelgeschäft an der Seestrasse. Als sie endlich eine gute Stammkundschaft aufgebaut hatten, eröffnete etwa 100 Meter von ihnen entfernt die Migros ihre erste Filiale in Spiez. Nein, davon war Erika Bühlmann überhaupt nicht begeistert. Aber janu! Sie und ihr Mann haben weiter gearbeitet und dann schliesslich, als er 64 und sie 62 Jahre alt waren, aufgehört. Irgendwann muss man ja einen Schlusspunkt setzen. Um schliesslich wieder von vorne anzufangen. Es war nämlich gar nicht so einfach, plötzlich zu zweit zu Hause zu sein und viel Zeit zu haben. Dadurch wurden kleine Nebensächlichkeiten auf einmal ziemlich grosse Hauptsachen und sie haben sich viel gestritten. Bis Erika eines Tages zu sich sagte: Das will ich doch gar nicht! Ich organisiere mich so, dass ich diese Streitereien bleiben lassen kann. Und fortan stand sie morgens um fünf Uhr bei einer Freundin in der Bäckerei und half tatkräftig mit. Wenn sie um elf Uhr nach Hause kam, war ihr Mann gerade aufgestanden und sie konnten den Rest des Tages zusammen geniessen.

Geniessen tut Erika Bühlmann bis heute gerne. Dass das manchmal gar nicht so einfach ist, davon kann sie ein Liedchen singen und nicht zuletzt deshalb besucht sie auch bis heute die Yoga-Stunden. "Yoga schenkt mir Zufriedenheit. Ich habe gelernt, auf meinen Körper zu hören und ich bin gelassener geworden. Ich habe mich besser kennengelernt und weiss heute, was ich mir zumuten darf und was nicht."

Wir verabschieden uns vor ihrem Haus und sie überlegt laut: Soll ich heute noch das Treppenhaus putzen? Vielleicht verschiebe ich das doch lieber auf morgen. Und ich: Habe ich das richtig verstanden? Sie putzen das ganze Treppenhaus dieses vierstöckigen Hauses noch selber? Sie: Aber sicher! Wissen Sie, es ist wichtig, dass es schön sauber ist. 


Samstag, 18. Juli 2015

Lily und die kleinen grossen Dinge des Lebens


Ich war wieder mal bei Lily. Ich habe ihr beim Waschen geholfen, ich habe Staub gesaugt, den Boden aufgenommen, ich habe das Bad und die Fenster geputzt und zusammen haben wir eine schön reife und saftige Melone gegessen.



Lily ist 84 Jahre alt und wohnt in einer Alterssiedlung in einem Studio. Sie hat drei Kinder, zwei Enkelsöhne und ist seit vielen Jahren Witwe. Lily ist herzlich, hilfsbereit, grosszügig und genau. 
Sie zügelte vor etwa drei Jahren in die Alterssiedlung, weil ihr Haus zu anstrengend für sie wurde. Zudem wollte sie es selber räumen und, falls sie sterben sollte, ihren Kindern alles gut geregelt und aufgeräumt hinterlassen. Dieses Haus, ein einfaches aus den sechziger Jahren, mit Garten, vielen Sträuchern, kleinen Bäumchen und wilden Rosen, dieses Haus, vollgepackt mit Geschichten und Erinnerungen, mit glücklichen Jahren als Familie, mit dem unerwarteten Tod ihres Mannes, dieses Haus liebte sie. Lily wurde still, wenn wir sie fragten, wie es ihr gehe mit dem Abschied. Es geht, sagte sie dann, es geht schon.

















Ihr neues Zuhause richtete sie mit neuen Möbeln ein, die sie sorgfältig und mit viel Freude aussuchte. Bis Lily für alles ein Plätzchen gefunden hatte, vergingen ein paar Monate. Das Alter hat Lily geduldig gemacht – oder vielleicht war sie schon immer geduldig, ich kenne sie erst seit ein paar Jahren.

Lily ist keine Frau für grosse Dinge, eher macht sie kleine Dinge gross. Weil sie ein Auge hat für das Unscheinbare und Nebensächliche und ihm mit ihrer Aufmerksamkeit Respekt schenkt. Lily ist auch keine Frau der grossen Worte, sie stellt mir aber unzählige Fragen, wenn ich ihr aus meinem Leben erzähle. Es sind keine aufdringlichen Fragen und alle zeugen sie von ihrem aufrichtigen Interesse. 

















Lily geht mir voran. Heute manchmal auf wackligen Beinen und doch geht sie entschlossen, mit einem offenen Herzen, ihren Weg. Manchmal sagt sie, ich bin müde, es ist jetzt dann genug. Ich habe ein gutes Leben gelebt und ich bin bereit, weiter zu gehen. So aufrichtig, wie sie das Leben lebte, so aufrichtig schaut sie dem in die Augen, was kommt. Das berührt mich und ich bin glücklich, dass es Lily in meinem Leben gibt.

















Als ich mich verabschiedete, schenkte sie mir einen selbstgepflückten Blumenstrauss. Gell, die Mischung ist etwas speziell, aber ich dachte, das passt schon, sagte sie mir. Ich finde auch, dass es passt. 


Dienstag, 14. Juli 2015

Es knackt wieder

aus der Küche
Hund und Mann
essen Nussstängeli
obschon
oft betont und wiederholt
die Abmachung gilt
es gibt nichts vom Tisch
auf keinen Fall


















was man sich doch
so alles vornimmt
wenn man einen Hund
hat und erziehen will
und dann auf einmal

knackt es halt wieder
und ich setz‘ mich dazu
ich sag’ mal nichts
vorerst
von mir kriegt er auch nichts,
der Hund
das ist ihm ziemlich egal
es gibt ja den Mann

ich sitze daneben
und fühle mich ausgeschlossen
aus der Nussstängeli-Teilet
glücklich
macht mich das nicht

glücklich aber sind
Hund und Mann
immer mal wieder
wenn es knackt
aus der Küche

Dienstag, 16. Juni 2015

Sommernebel

















Während er sich ausbreitet
der dichte Nebel
mitten im Sommer
stehe ich hinter dem Fenster
will abwarten
bis er verschwindet

Der Nebel ist grau
ist herbstlich
er passt nicht
nicht hier, nicht heute
warum merkt er das nicht?


















Es ist still und ruhig
der Nebel schliesst mich ein
ins Hier und Jetzt
in meine Fragen, meine Vorstellungen
von dem, was passt und was nicht passt
in meine Kurzsichtigkeit, meine Starrheit

Und während ich da sitze
benebelt von meinen Vorstellungen
wie was sein sollte
schliesst sich der Nebel noch etwas dichter ums Haus
er scheint mich zu mögen
will mich umarmen
und ich frage mich

warum eigentlich nicht?
und sage zaghaft 

hallo Nebel

















Du bist um mich
du haust in mir

wie meine Ungewissheit, meine Angst

Das Leben ist manchmal undurchsichtig
und neues Leben entsteht immer in der Dunkelheit
neue Wege beginnen im Verborgenen

Ich höre auf abzuwarten
ich setze einen Schritt vor den anderen
spüre den festen Boden unter meinen Füssen
während sich mein Blick im Nebel verliert

heute geht es für mich nicht darum zu sehen
sondern einer Ahnung zu folgen
die aufsteigt
wie ein Sommernebel