Seit 63 Jahren sind meine Eltern nun verheiratet. Im letzten Jahr besuchten sie zum ersten Mal ein Ehewochenende. Meine Mutter lachte: «Das hat jetzt gedauert, bis Willy dazu bereit war.» Ja, das hat gedauert. Und offenbar hat es sich auch gelohnt. Jedenfalls berichtete mir meine Mutter, dass sich mein Vater seither mehr Mühe gebe. Was immer das heissen mag, sie schien sehr zufrieden zu sein und vom Wochenende hat sogar mein Vater geschwärmt.
Anfang Jahr bekam er dann die Gelegenheit, seine Liebe zu meiner Mutter einmal mehr handfest unter Beweis zu stellen. Das kam so: Meine Mutter ist in der Waschküche gestürzt. Weil sie sich mit dem linken Arm aufstützen wollte, hat sie das Handgelenk gebrochen. Die ganze linke Seite, vom Gesäss an abwärts, tut ihr seither weh. Und sie hat starke Rückenschmerzen. Dagegen bekommt sie Medikamente, die sie leider nicht so gut verträgt. Deshalb hat sie immer wieder massive Verdauungsprobleme.
Dieser Unfall brachte meinen Vater in die Sätze. Meine Mutter, die nach wie vor bezüglich des Haushalts und der Küche Regie führte, war auf einmal ausser Gefecht gesetzt. Und obendrauf: Sie konnte nicht nur nichts mehr tun, sondern verschaffte meinem Vater auch noch eine Menge Arbeit. Auf ihrem Nachttischchen stand ein Glöckchen, das sie gerne und häufig benutzte. So hörte mein Vater, egal wo er sich gerade aufhielt, dass er gebraucht wurde.
Mein Vater ist gerannt und gesprungen, hat hier ein Teelein gekocht und da ein Mittagessen, hat gebracht und geholt, hat eingekauft und gewaschen, ist gefahren und gelaufen… Und als meine Mutter für kurze Zeit im Spital war, hat er sie aufs Schmerzlichste vermisst: Ihm ist bewusst geworden, wie lange er schon gemeinsam mit ihr unterwegs ist und dass irgendwann die Zeit des Abschieds kommen wird. Es ist ja nicht immer einfach, zu zweit zu sein, so nah und pausenlos, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Deshalb ist die Stimmung manchmal ziemlich gereizt. Eh ja, man muss sich unzählige Male am Tag wiederholen, weil der Andere nicht mehr gut hört. Und alles dauert so lange, alles ist anstrengend und überhaupt: Altwerden ist nicht lustig.
In den letzten Wochen habe ich beobachtet, dass der Ton zwischen meinen Eltern weicher wurde. Anstatt sich übereinander zu ärgern, fingen sie an, nachzufragen: «Wie meinst du das jetzt?» Anstelle der leicht genervten Frage «He?», kam ein ruhiges «Ich habe dich nicht verstanden, sagst du’s nochmal?». Und meine Mutter erzählte mir strahlend: «Du glaubst gar nicht, wie liebevoll Willy mich pflegt. Und wie gut er kocht. Er gibt sich so Mühe und er macht das so gut.» Und mein Vater versicherte mir, wie gerne er sein Friedely versorgt – so anstrengend das auch immer sein mag.
Und es war anstrengend und zwar für beide. Die Unterstützung, die sie durch die Spitex, meiner Schwester, mir und unseren Brüdern bekommen haben, war dringend nötig und haben sie sehr geschätzt. Ich habe in dieser Zeit eine Nähe zu meinen Eltern erlebt, die mich sehr berührt hat. Das Sitzen am Bett meiner Mutter, das Erzählen und Zuhören, die Berührungen, das gegenseitige Streicheln und Halten – das war Balsam für mein Herz. Das Kaffeetrinken mit meinem Vater, ihm zuhören, ihn ermutigen und bestätigen, ihn drücken und halten – auch das: Seelenbalsam. Und ja, sie bleiben meine Eltern, auch wenn wir die Rollen in gewissen Bereichen getauscht haben.
Apropos Rollentausch: Es war wirklich der Stolz meiner Mutter, zu wissen, wie man einen Haushalt gut führt. Sie ist eine vielseitige Köchin und Hausfrau und hat bis vor ihrem Sturz immer wieder neue Menüs ausprobiert, trotz ihrer Müdigkeit und ihren zittrigen Händen, die sie manchmal fast zur Verzweiflung bringen. Wenn ich meine Mutter heute etwas frage was den Haushalt betrifft, sagt sie: «Frage deinen Vater, er ist jetzt der Chef.» Gestern, als ich sämtliche Vorhänge für sie gewaschen habe und sie fragte, wie sie das mache, mit welchem Waschmittel und so, bekam ich die gleiche Antwort. Ich machte sie darauf aufmerksam, dass mein Vater noch nie Vorhänge gewaschen, dass sie das die letzten 60 Jahre gemacht habe. Sie sagte nur: «Ja, das mag sein. Aber jetzt nicht mehr. Frage deinen Vater.» Sie haben also ihre Rollen definitiv getauscht: Während mein Vater freudig und stolz Regie führt in Haushalt und Küche, fühlt sich meine Mutter sichtlich wohl in der Rolle von der, die umsorgt und bekocht wird.
Die Bereitschaft meiner Eltern, sich auf das einzulassen, was ist, beeindruckt mich. Und dazu noch sehen zu dürfen, wie entschlossen sie ihre Liebe zueinander leben, das tut mir unendlich gut. Das macht mich stolz. Sie haben diese strenge Zeit genutzt, um sich ganz neu aufeinander einzulassen und ihre Rollen zu tauschen. Ob das so bleiben wird? Ich bin gespannt. Ich bin ihnen sehr dankbar für das, was sie mir vorleben: Dass offenbar nichts so deutlich und klar macht, wie das Alter mit seiner Weisheit, was im Leben wirklich zählt.