Sonntag, 9. März 2014

Bisch es Tüpfi!


Anno 1964: Mein Paps zusammen mit meiner grossen Schwester.

Ich habe eigentlich wenige Erinnerungen an meine grosse Schwester. Ich weiss nur noch, dass ich sie bewundert habe und beneidet. Weil sie eben schon so gross war, sie hatte Jahrgang 1961, und so vieles wusste und so vieles durfte – oder es eben gar nicht nötig hatte, zu fragen. Zum Beispiel hautenge Jeans tragen. Meine Mam fand die scheusslich, aber das war Ruthle egal. Ihr gefielen sie, also trug sie sie. Auch wenn sie, um sie anziehen zu können, aufs Bett liegen musste. Stretch war damals kein Thema. Das waren eben noch richtige Jeans, schön verschlissen. Die hat man nicht so gekauft, die sind so geworden. Jeans waren damals wie gute Freunde, die einem über die Jahre begleitet haben.

Ich als kleine Schwester trug keine solchen Jeans. Für mich gab es die Hosen meiner nicht ganz so grossen Schwester nachzutragen. Diese Tatsache alleine war schon mal per se nicht toll, ganz zu schweigen von den Hosen, die es zu tragen galt. Ein leidiges Thema, das wohl alle, die sich zu den Jüngsten einer Familie zählen dürfen, bestens kennen.

Für meine grosse Schwester war ich ein Tüpfi. Immerhin war ich sieben Jahre jünger als sie, also ist dieses Tüpfi an sich berechtigt. Mich hat's genervt, ein Tüpfi zu sein. Heute denke ich allerdings: Sie hätte mir auch Totsch sagen können oder Plaferi oder Hotsche oder Rifu oder Hurlibusch. Dagegen klingt Tüpfi doch ganz angenehm.

Gestern wäre meine grosse Schwester 53 Jahre alt geworden. Ende Jahr sind es 35 Jahre, seit sie gestorben ist. An ihrem 18. Geburtstag begann sie zu ahnen, dass ihre Krankheit nicht zu stoppen war und dass sie würde sterben müssen. Als sie etwa 13 Jahre alt war, fing ihre Krankheitsgeschichte an. Dass sie mit dem Tod enden könnte, dachte damals niemand. Als Ruth in der 9. Klasse war, musste sie zum ersten Mal operiert werden. Und zwar im Gesicht – und dieses junge Gesicht war fortan entstellt. Unter anderem auch deshalb, weil bei der Operation ein Nerv durchschnitten wurde, der nicht hätte durchschnitten werden sollen und dieser Fehler bescherte ihr ein schräges Lachen.

Vom Anfang ihrer Krankheit habe keine Erinnerung. Ich weiss nur noch, dass sie ein Pflaster tragen musste, unterhalb des linken Auges – und das mit 13 Jahren, über etwa zwei Jahre. Ansonsten war sie eine ganz normale Schwester, sie war ein Teenie, sie war eigensinnig, spleenig und liebevoll, sie war verliebt – ob das jemals etwas hätte werden können mit diesem Mischu? – und lebenshungrig. Und wurde langsam aber sicher ernsthaft krank. Irgendwann war sie sehr krank. An diese Zeit erinnere ich mich. An die unzähligen Spitalbesuche in der Insel, Zimmer N113. Als sie nach acht grossen Operationen den Ärzten sagte, sie möchte jetzt nicht mehr operiert werden, da diese Operationen ja doch nichts brächten, durfte sie nach Hause kommen. Ein halbes Jahr später starb sie.

Gestern habe ich vor meinem inneren Auge ein Bild gemalt. Wie sie wohl wäre, wenn sie noch lebte? Heute Morgen ist mir aufgefallen, dass dieses Bild ganz stark meinen lieben Freundinnen gleicht, die mir über die Jahre zu Schwestern geworden sind. Beide haben sie Jahrgang 1961.