Anno 1964: Mein Paps zusammen mit meiner grossen Schwester.
Ich habe eigentlich wenige Erinnerungen an meine grosse
Schwester. Ich weiss nur noch, dass ich sie bewundert habe und beneidet. Weil
sie eben schon so gross war, sie hatte Jahrgang 1961, und so vieles wusste und
so vieles durfte – oder es eben gar nicht nötig hatte, zu fragen. Zum Beispiel
hautenge Jeans tragen. Meine Mam fand die scheusslich, aber das war Ruthle
egal. Ihr gefielen sie, also trug sie sie. Auch wenn sie, um sie anziehen zu
können, aufs Bett liegen musste. Stretch war damals kein Thema. Das waren eben
noch richtige Jeans, schön verschlissen. Die hat man nicht so gekauft, die sind
so geworden. Jeans waren damals wie gute Freunde, die einem über die Jahre
begleitet haben.
Ich als kleine Schwester trug keine solchen Jeans. Für mich
gab es die Hosen meiner nicht ganz so grossen Schwester nachzutragen. Diese
Tatsache alleine war schon mal per se nicht toll, ganz zu schweigen von den
Hosen, die es zu tragen galt. Ein leidiges Thema, das wohl alle, die sich zu
den Jüngsten einer Familie zählen dürfen, bestens kennen.
Für meine grosse Schwester war ich ein Tüpfi. Immerhin war
ich sieben Jahre jünger als sie, also ist dieses Tüpfi an sich berechtigt. Mich
hat's genervt, ein Tüpfi zu sein. Heute denke ich allerdings: Sie
hätte mir auch Totsch sagen können oder Plaferi oder Hotsche oder Rifu oder
Hurlibusch. Dagegen klingt Tüpfi doch ganz angenehm.
Gestern wäre meine grosse Schwester 53 Jahre alt geworden. Ende
Jahr sind es 35 Jahre, seit sie gestorben ist. An ihrem 18. Geburtstag begann
sie zu ahnen, dass ihre Krankheit nicht zu stoppen war und dass sie würde
sterben müssen. Als sie etwa 13 Jahre alt war, fing ihre Krankheitsgeschichte
an. Dass sie mit dem Tod enden könnte, dachte damals niemand. Als Ruth in der
9. Klasse war, musste sie zum ersten Mal operiert werden. Und zwar im Gesicht –
und dieses junge Gesicht war fortan entstellt. Unter anderem auch deshalb, weil
bei der Operation ein Nerv durchschnitten wurde, der nicht hätte durchschnitten
werden sollen und dieser Fehler bescherte ihr ein schräges Lachen.
Vom Anfang ihrer Krankheit habe keine Erinnerung. Ich weiss
nur noch, dass sie ein Pflaster tragen musste, unterhalb des linken Auges – und
das mit 13 Jahren, über etwa zwei Jahre. Ansonsten war sie eine ganz normale
Schwester, sie war ein Teenie, sie war eigensinnig, spleenig und liebevoll, sie
war verliebt – ob das jemals etwas hätte werden können mit diesem Mischu? – und
lebenshungrig. Und wurde langsam aber sicher ernsthaft krank. Irgendwann war
sie sehr krank. An diese Zeit erinnere ich mich. An die unzähligen
Spitalbesuche in der Insel, Zimmer N113. Als sie nach acht grossen Operationen
den Ärzten sagte, sie möchte jetzt nicht mehr operiert werden, da diese
Operationen ja doch nichts brächten, durfte sie nach Hause kommen. Ein halbes
Jahr später starb sie.
Gestern habe ich vor meinem inneren Auge ein Bild gemalt.
Wie sie wohl wäre, wenn sie noch lebte? Heute Morgen ist mir aufgefallen, dass
dieses Bild ganz stark meinen lieben Freundinnen gleicht, die mir über die
Jahre zu Schwestern geworden sind. Beide haben sie Jahrgang 1961.
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