Ich war wieder mal bei Lily. Ich habe ihr beim
Waschen geholfen, ich habe Staub gesaugt, den Boden aufgenommen, ich habe das
Bad und die Fenster geputzt und zusammen haben wir eine schön reife und saftige
Melone gegessen.
Lily ist 84 Jahre alt und wohnt in einer Alterssiedlung in einem Studio. Sie hat drei Kinder, zwei Enkelsöhne und ist seit vielen Jahren Witwe. Lily ist herzlich, hilfsbereit, grosszügig und genau. Sie zügelte vor etwa drei Jahren in die Alterssiedlung, weil ihr Haus zu anstrengend für sie wurde. Zudem wollte sie es selber räumen und, falls sie sterben sollte, ihren Kindern alles gut geregelt und aufgeräumt hinterlassen. Dieses Haus, ein einfaches aus den sechziger Jahren, mit Garten, vielen Sträuchern, kleinen Bäumchen und wilden Rosen, dieses Haus, vollgepackt mit Geschichten und Erinnerungen, mit glücklichen Jahren als Familie, mit dem unerwarteten Tod ihres Mannes, dieses Haus liebte sie. Lily wurde still, wenn wir sie fragten, wie es ihr gehe mit dem Abschied. Es geht, sagte sie dann, es geht schon.
Ihr neues Zuhause richtete sie mit neuen
Möbeln ein, die sie sorgfältig und mit viel Freude aussuchte. Bis Lily für
alles ein Plätzchen gefunden hatte, vergingen ein paar Monate. Das Alter hat
Lily geduldig gemacht – oder vielleicht war sie schon immer geduldig, ich kenne
sie erst seit ein paar Jahren.
Lily ist keine Frau für grosse Dinge, eher
macht sie kleine Dinge gross. Weil sie ein Auge hat für das Unscheinbare und
Nebensächliche und ihm mit ihrer Aufmerksamkeit Respekt schenkt. Lily ist auch
keine Frau der grossen Worte, sie stellt mir aber unzählige Fragen, wenn ich ihr aus
meinem Leben erzähle. Es sind keine aufdringlichen Fragen und alle zeugen sie
von ihrem aufrichtigen Interesse.
Lily geht mir voran. Heute manchmal auf wackligen Beinen und doch geht sie entschlossen, mit einem offenen Herzen, ihren Weg. Manchmal sagt sie, ich bin müde, es ist jetzt dann genug. Ich habe ein gutes Leben gelebt und ich bin bereit, weiter zu gehen. So aufrichtig, wie sie das Leben lebte, so aufrichtig schaut sie dem in die Augen, was kommt. Das berührt mich und ich bin glücklich, dass es Lily in meinem Leben gibt.
Als ich
mich verabschiedete, schenkte sie mir einen selbstgepflückten Blumenstrauss.
Gell, die Mischung ist etwas speziell, aber ich dachte, das passt schon, sagte
sie mir. Ich finde auch, dass es passt.
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